Die Tugend der Selbstüberschätzung
Ich für meinen Teil habe eine charakterliche Disposition zu hoffnungslosem Optimismus. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, ist die Chance relativ groß, dass ich dazu sowas sage wie "kriegen wir hin, kein Problem". Aufgrund der Tatsache, dass ich als Mensch so bin, habe ich insbesondere zu Beginn meiner Programmierer-Karriere oft Aufgaben übernommen habe, von denen ich noch nicht wusste, ob oder wie ich sie zu bewältigen konnte. Frei nach dem Motto "Fake it 'til you make it" habe ich auf die Frage, ob ich dieses oder jenes Problem lösen kann, erst einmal laut ja geschriehen und dann im zweiten Schritt versucht herauszufinden ob ich das überhaupt kann.
Klingt zunächst mal ziemlich bescheuert und unprofessionell, insbesondere wenn es um zahlende Kunden geht, die sich auf Dich verlassen. Aber wie ich über die Jahre festgestellt habe, gibt es zuweilen keine bessere Motivation etwas zu lernen als einen Auftrag, eine Aufgabe aus der realen Welt. Und während man an der einen oder anderen Stelle einfach aufgeben würde, wenn es keinen Druck von außen gibt, ist das Aufgeben unter diesen Umständen eher der letzte Ausweg.
Natürlich sollte man gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass man sich tatsächlich nicht übernimmt: zum Beispiel indem man entsprechend mehr Zeit einplant. Gleichermaßen sollte man sicherstellen, dass der Deal auch für die andere Seite fair bleibt: wenn Du zum Beispiel an einem Projekt für einen Kunden arbeitest, aber vier von acht Stunden über die Umsetzung liest und nicht programmierst, solltest du auch nur vier Stunden abrechnen. Und natürlich solltest Du auch nicht als JavaScript-Programmierer anfangen, Aufträge für hochkomplexe Anwendungen in C++ anzunehmen, sondern durchaus im eigenen Gewässer fischen.
Aber wenn Du dich an ein paar vernünftige Rahmenbedingungen hältst, dann kann eine gesunde Selbstüberschätzung ein unfassbarer Motor sein: nicht nur für deinen wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch deinen ständigen Lernerfolg. Warum sich jahrelang an der Realität vorbei durch Lehrbücher pflügen, wenn man für das Lernen an realen Problemen bezahlt werden kann?